Dornröschen-Schlaf
Aus Märchen können wir heute noch lernen, auch wenn sich die
Zeit geändert hat. Und wir wissen, dass die Guten irgendwie gewinnen müssen. Der
Volksmund hatte den Prinzen schon in der Kindheit darüber aufgeklärt, was Sache
ist. Und so zieht er los, um Dornröschen aus hundert Jahren Schlaf zu erwecken.
Danach würde alles in Ordnung sein.
Heute sieht wohl alles ein wenig anders aus. Er kommt auf geraden Straßen alsbald an. Aber in diesem Land scheint das ganze Volk in Agonie zu sein. Kaum
einer bewegt sich. Keiner antwortet ihm. Er will doch die wundersam schlafende
Königstochter wach küssen - auch für sie. Er sieht die Burg, trutzig wie Burgen
sein müssen. Also zieht er weiter bergan bis zur rotblühenden Dornenhecke, in
denen viele Überreste der früher gescheiterten Abenteurer hängen und liegen:
Kleiderfetzen, rostige Schwerter und Helme, Knochen. Er lässt sein Ross zurück
und müht er sich durch die Dornen voran. Sie zerren an seinen Kleidern und reißen Hände und Gesicht blutig. Er schafft er es dennoch bis zum Tor. Und dieses öffnet
sich erstaunlich leicht.
Auf dem holprigen Hof sieht er das Burgvolk, nicht zu emsig,
aber immerhin auch nicht schlafend. Diener stelzen hin und her. Würdevolle Damen und
Herren schauen bedächtig aus den romanischen Fenstern. Knechte bessern schadhafte Mauern aus.
Pferde werden auf- und abgesattelt. Bogenschützen schießen mit stumpfen Pfeilen
umher, und auf Steinbänken sitzende alte Leute sehen ihnen gelangweilt zu. Kinder
spielen Hopse vor dem Palas. Eine
morbide Szene mit fahler Abendsonne.
Niemand beachtet ihn. Er steigt die brüchige Treppe hinauf,
findet den Übergang zum Turm. Die Tür neben dem Wendelstein steht offen. Er hastet in den runden, fast leeren Raum. Die Prinzessin sitzt vor einem goldgerahmten, matten
Spiegel und kämmt sich die graublonden, dünnen Haare. Rote Rosen welken in einer
Vase aus böhmischem Glas.
Wie selbstverständlich empfängt sie ihn, und nicht einmal unfreundlich.
Aber alles ist, wie es ist. Als ob das oft schon so war. Wieder mal einer. Sie
grient ihn an, sabbernd aus zahnlosem Maul. Ihn gruselt. Er stürzt die Treppe
hinab und schreit auf dem Hof: Sie ist erwacht! Sie ist erwacht! Keiner hört
ihm zu, als würde es keiner glauben. Er flieht aus dem Tor dahin, wo ihn die Rosenhecken ewig festhalten
werden.
2021
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