Montag, 3. Februar 2020

Die Lyrik - eine Blumenwiese für die Rhetorik

Zum Beispiel Hermann Hesse 



https://www.mein-lernen.at/
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3142-gedicht-stufen-hermann-hesse
Er hat über 1.400 Gedichte geschrieben. Das nachfolgende ist wohl eines seiner schönsten und bekanntesten. Reime und Rhythmen, Allegorien und Metaphern, Verse und Strophen fügen sich zu sprachlicher Schönheit. Ab und zu sollten wir doch mal wieder ein Gedicht lesen, allein für uns, halblaut und bedacht. Bei guten Gedichten wird der Sinn nicht nur verständlich, sondern auch fühlbar. Auf den "Stufen", die Hesse uns schreiten lässt, gefällt mir vor allem das Enjambement, der Zeilensprung, mit dem die Sinneinheit über das Versende hinaus geführt wird und uns unmittelbar in die nächste Zeile springen lässt, wodurch eine sensible Spannung zwischen Sinn und Vers entsteht. (Vgl. Yomb May: Literarische Grundbegriffe. S. 41). Probiere es doch einmal aus. Nimm Dir ein wenig Zeit. Träume. Sei fröhlich oder traurig. Lies ganz locker nur für Dich. Dafür sind Gedichte gemacht  - nicht nur für die Deutschlehrer.

Stufen (ursprünglich: Transzendieren)

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden...
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!


Hermann Hesse (1941)

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